Spieltrieb und Strategie
Birgit Maria Wolf in der Kunsthalle Moabit
Text von Dr. Bojana Pejić (dt. Olaf Kühl)
NBK. Zeitschrift für neue bildende Kunst. 1995


Unter dem Titel "Raumkonzepte" zeigte die Kunsthalle Moabit ... Birgit Maria Wolfs Domino. ... Wolf hat sich den Raum durch Bilder angeeignet, die im Rahmen der Malerei bleiben: Sandbilder.

Die "Domino" - Installation besteht aus einer 130-teiligen Arbeit, die die Künstlerin in den letzten beiden Jahren entwickelt hat. Sie manifestiert den Versuch, "eine Geschichte zu erzählen". In einen konkreten Raum gestellt, präsentiert sich diese Erzählung als fortlaufender Roman mit "Kapiteln", die "Gedachtes, Erlebtes, Geträumtes, Gesehenes, Erinnertes, Mögliches" visualisieren. Die Geschichte-im-Raum hat jedoch keinen wirklichen Anfang, kein endgültiges Ende. Im Widerspruch zu Virilios "Ästhetik des Verschwindens", derzufolge Bilder heute ihren festen Halt verloren haben und ihre Existenz nur der Lichtquelle verdanken, kann zu Wolfs Sandbildern zurückgehen, den Film zurückspulen, rechs, links, oder an irgendeinem Punkt der Bilderfolge beginnen, den der Betrachter sich zum Anfang wählt. Wolfs Bilderentwurft hat das schiere Fließen zur Grundlage.
Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre beschäftigte sich Birgit Maria Wolf - als Malerin ausgebildet - hauptsächlich mit der Gestalt des Kreises (dem ihr Hauptinteresse in gewisser Weise bis heute gilt, wie auch die "Domino" Serie bezeugt). Vom Kreis kam sie Produktion (besser Konstruktion) von Fächern, die mit kräftigen Farben, monochrom oder ornamental, bemalt waren. Diese großformatigen Objekte markieren eine Abkehr vom charakteristischen Tafelbild, vielleicht sogar seine Negation. Die Fächer ließen sich sowohl auf dem Boden wie an den Wänden installieren und gestatteten der Künstlerin die Entwicklung einer Dialektik von Geschlossen-Offen, Dunkel-Hell, Positiv-Negativ. Das war ein Aufbegehren gegen die Tendenz zur "endgültigen Lösung" zur Sackgasse, dem Prinzip des Entweder-Oder in der Kunst.
Im Vergleich zu diesen frühen Installationen, deren Objekte den Raum "angriffen" und eine Art dramatische Raumspannung erzeugten, durchschlängeln die Sandbilder den weißen Raum ohne jede Aggression gegen die Umgebung, aber auch ohne mit ihr zu verschmelzen: Die gegebene räumliche Situation wird nicht als Hindernis behandelt, sie ist wie eine Muschel, die die Arbeit behutsam trägt und sanft beschützt. Das Gefühl der Unruhe, das sich dennoch einstellt, scheint zwei Ursachen zu haben: Erstens hat die Bilderfolge ihren eigenen Rhythmus; zweitens verstört die Installation, indem die Künstlerin ihr ureigenes künstlerisches Lustprinzip so sichtbar zur Schau stellt - auch wenn dies ohne Zynismus, ohne koketten Nihilismus geschieht.
Jedes einzelne Dominostück besteht aus zwei Quadraten gleicher Größe, die ein Rechteck (71 x 35 cm) ergeben. Eine Seite des Quadrats ist dem Domino-Zeichen vorbehalten, das andere ist Träger eines Symbols, Zeichens, Piktogramms oder Ornaments, das entweder alten, nicht europäischen Kulturen oder dem heutigen Alltag entnommen ist und auf dem Nachbarstück wiederholt wird. Diese Wiederholung ist in der Tat Ausdruck von Wolfs Spieltrieb und Strategie zugleich: Indem sie die Positionen eines Zeichens oder Symbols (z. B. von vertikal zu horizontal) ändert, dekonstruiert sie dessen Bedeutung und macht sie zu einer persönlichen.
Die Entscheidung für ein bestimmtes Zeichen oder Symbol fällt auf des Messers Schneide zwischen aktiver und passiver Einstellung: Sie hängt ab vom sorgfältigen Blick auf die Wirklichkeit, in der wir leben, uns bewegen, handeln, den Blick auf eine Welt, die immer codiert, bedeutungshaltig und durch Zeichen organisiert ist - durch Bilder, die uns durchdringen im Sinne der Feststellung von Merleau-Ponty, daß "das Sehen dem Denken vorausgeht". Das kann auch bedeuten, daß nicht wir ein bestimmtes Zeichen oder Symbol wählen sondern von ihm gewählt werden.
Wolfs Zeichen oder Ornamente sind als Negativ gesetzt: Träger des Zeichens ist die leere Leinwand, umgeben von dem in unterschiedlichen Schichten aufgetragenen Sand. Die Arbeit besitzt daher eine hohe habtische Qualität. "Domino" manifestiert in der Tat Argumentationslinien, die Julia Kristeva in ihren Analysen von Mallarmé, Joyce und Artaud bezogen hat. Das Kunstwerk ist nicht das Ergebnis einer selbsicheren, unangreifbaren Position des Künstlers. Kunst ist ständige Bewegung, in der sich sowohl das künstlerische Subjekt als auch das Objekt konstituieren. Kristeva spricht in diesem Zusammhang von "Krisen der Subjektivität": "Im Idealfall gelingt es dem Künstler, seine eigene Produktion glaubhaft zu machen, sie zu relativieren, so als handelte es sich um ein lebendiges System, das nur in der Offenheit dem Anderen gegenüber bestehen kann. Ein Leben, ein Kunstwerk: Sind das nicht nur so lange "Werke im Werden", wie sie sich noch selbst entwerten und in Flammen ausliefern können? - seien es Flammen der Sprache oder der Liebe."


Zur Ausstellung RAUMKONZEPTE III in der Kunsthalle Moabit:
Birgit Maria Wolf
"Domino" - 130 Teile
Text von Andreas van Dühren (Herausgeber der Kunstzeitschrift "Text"

Das Ungefähre ist ein Gefängnis - man glaubt dort, zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten wählen zu können und wird doch beide Wege immer wieder verfehlen. Nur im Bereich der Zahl ist jene Unterscheidung unwirksam; die Kunst stellt zur Freiheit die Bedingung, einen verinnerlichten Zusammenhang auf das Greifbare auszudehnen, eine Aufgabe, die mit jeder Lösung aufs neue formuliert wird, weil Ideal und Modell einander fortwährend verwandeln. Dieses Werk provoziert einen zweiten, möglichen Betrachter, der sich in ein starres Verhältnis, auch in die räumliche Auseinandersetzung zwischen dem Ich und den Wirklichkeiten nicht fügt: es ist eine Anleitung zum Sehen. Man nimmt einen Beginn an, möchte eine Linie ziehen und würde sogleich einem Wahrnehmungsgesetz folgen, denn jede erweiterte Anschauung fordert, daß man vom Gegenstand verschiedene Ansichten gewinnt und dessen Einheit in einem zeitlichen Kontinuum erfaßt - nur daß hier das Objekt den Betrachter wie ein aufgefalteter Plan umgibt, der seine Verwirklichung sowie jenen Erkenntnisakt reflektiert. Gäbe es nur diesen auf einer Fläche dargelegten Zusammenhang, man müßte die Bewegung nicht unterbrechen und einzelnen Feld - als wären es nur die aneinandergereihten Ansichten - einen Halt wie an einem vorgeschriebenen Blickpunkt doch mehr als die Bestandteile eines Gebildes oder die Momente seiner Wahrnehmung, eröffnen die Zeichen jeweils einen weiterer Spielraum - eine Tiefe, die nicht mit den Maßen dieses Raumes gegeben ist, wohl auch eine Geschichte, die aber weiter als bis zu jenem unausweichlichen Zufall zurückreicht, durch den die Erzählung begann.
Man mag die Zeichen lesen, das Symbol einer Kultur zuordnen, vom Piktogramm eine Funktion ableiten, und man mag immer wieder an den Plan anknüpfen - der Titel des Werkes, wenn es denn eine Einladung zum Spiel ist, trügt nicht. Jener mögliche Betrachter aber wäre durch die Entzifferungen nicht beruhigt; er weiß, es gibt eine fast eifersüchtige Beziehung zwischen dem Ich und den vorgestellten Dingen, die sich nicht in verschlüsselten Botschaften erschöpft und durch Erklärungen nicht zu beschwichtigen ist. Dies ist auch Malerei, und sie vollzieht sich nicht auf der Ebene der Darlegung, sondern drückt in einer Linie, von den Spuren all der Revisionen, vielleicht einer Revolte, der persönlichen Erinnerungen zwar befreit, eine Aneignung des Sichtbaren aus.


Domino
Text von Dr. Rolf Th. Senn, April 1996

DOMINO
- Legespiel, 2-4 Spieler, 28 oder mehr Legesteine mit Zahlenwerten von 0-6 in jedem der zwei auf jedem Stein abgegrenzten Felder
- Maskenmantel
- sein Träger
(aus einem enzyklopädischen Lexikon)

Zu den Dingen, die dem Anschauenden ins Auge fallen, gehört in der Arbeit DOMINO die Zahl seiner Elemente. Das gewöhnlich aus 28 Teilen bestehende Zahlenspiel, dessen Gewinner sich "Domino = Herr" nennt, hat sich zu einer Arbeit aus 130 Elementen ausgeweitet. Ihr Code besteht aus zwei mathematischen Operationen, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen funktionieren - der Multiplikation und der Spiegelung (28x2=56 gespiegelt 65x2=130).
Bei ihrer ersten Installation erwies sich die Arbeit dem zum Trotz jeder restlosen Aufteilung gegenüber als widerständig; es verblieben zwei Elemente. Sie waren aus dem Gedächtnis hinzuzufügen und stehen seither im Raum als Garanten einer manieristischen Ars combinatoria, die auf das Zufallsprinzip nicht verzichten will.

Wie bei den Fächern gleicht das Dekorum dieser Arbeit - Sand als kristalliner Blickfang - einer Offerte seitens der Künstlerin. Daraus ausgesparte Elemente wie Kreis, Loch, Punkt wären ausschließlich als geometrische Kürzel aufzufassen, suchten sie nicht mit Ball, Ring, Kopf und Kugel ihre Pendants in der Realität.
Das zweite Element des DOMINO sind Piktogramme, die uns als Zeichen täglich begegnen. Ihre Macht liegt darin, daß sie, Notationen vergleichbar, jenseits der Sprache universell verständlich sind. Zeichen wie Treffpunkt, Paar, Wachstum oder Zeit sind wegen ihrer Stetigkeit mühelos zu deuten. Solche wie Recycling, Freischaltung und dergleichen dem technischen Wandel unterworfen. Eine Erweiterung gegenüber unserem Alltag besteht im Rückgriff auf historische Zeichen - bis ins Unvordenkliche wie dem ägyptischen für Beständigkeit.

Die Elemente der jeweiligen Dominosteine versetzen mitten hinein in die Geschichte oder vielmehr die Geschichten, die uns die Künstlerin erzählt. So ergibt beispielsweise das Zeichen für "Tunnel" in Verbindung mit der Zahl 1 bereits in sich ein Spiel mit mehreren Bedeutungen auf einem einzigen "Stein": die Zahl 1 ist variabel, sie steht mit gleichem Recht auch für Kopf, Kugel oder Ball. In Worten ausgedrückt könnte dies zu folgenden Aussagen führen: Sie fahren gleich durch einen Tunnel; denken Sie daran, was Ihnen im Tunnel alles begegnen kann (zu denken wäre auch an alle psychologischen Varianten); bitte keine Kugel auf die Schienen legen; Ballspielen vor Tunneln verboten usw.
Auf dieser Basis kann sich jeder Mitspieler mittels des Pendantsteins (Tunnelpiktogramm + Dominozahl drei) mit seinen Varianten ins Spiel bringen. Es wäre allerdings naiv, die Kombinatorik als aus dem Leben gegriffene auf die leichte Schulter zu nehmen: "Domino" ist letztlich allein derjenige, der die Regel des Doppelspiels am besten beherrscht: So geht es nur auf den ersten Blick darum, die gleichen Werte - Zahlen oder Piktogramme - miteinander zu koppeln. Etwa dem vergleichbar, was wir unter dem harmlosen Begriff Sozialisation kennen.

Zur hohen Kunst des Spiels gehört etwas ganz anderes: sich der Falle der Spiegelung - die das DOMINO scheut wie Narziß das Wasser hätte meiden sollen - in jedem Augenblick gewärtig zu sein, ihr Zuschnappen herauszufordern und ihr dennoch spielerisch zu entgehen. Womit auch deutlich wird, warum die Pendantsteine notwendig unterschiedlichlich beziffert sind.
Die Künstlerin stellt die Falle inmitten des DOMINO. Der Spiegel steht zwischen den Elementen 56 und 65. Wer hineinschaut übersieht nicht nur den Kontext der Steine, sondern er brächte den gesamten Ablauf zum Stillstand, das Spiel zum Abbruch. Hier stehen wir erneut vor der Herausforderung des Narziß: Der Durchgang zu Element 65 ist nur durch einen Sprung möglich, welcher die genaue Umkehr dessen ist, was die Spiegelung kennzeichnet. Auf der Ebene der Zeichen beinhaltet das Tunnelpiktogramm diesen Durchgang, ebenso Ort der Implosion aller psychologischen Varianten wie auch des Sturzes in die virtuelle Zeit.

Man könnte nun Sprung, Implosion und Sturz als das Prinzip der Maske bezeichnen. Auf der Bühne kennt man dies seit der Mensch spielt. Die Person wird charakterisiert durch das "personare", das heißt wörtlich das Hindurchklingen von Sprache oder Gesang durch eine Maske. Die Person ist immer hinter der Maske, ohne sie nicht denkbar.
Die Erfinder des Domino, die allem Anschein nach aus dem Orient stammen, haben dies auch ohne Zuhilfenahme strukturalistischer Theorien gewußt. "Domino" nannten sie nämlich nicht nur den Gewinner des Spiels, sondern auch den Träger des Maskenmantels. Er ist derjenige, dessen Person hinter all den Masken steckt, die auf seinem Mantel appliziert sind. Mit anderen Worten: Er allein ist der Beherrscher der Multiplikation des Ich.
Rezeptionsästhetisch ist diese Multiplikation dasjenige, was den Betrachter anschaut, bevor er selbst schaut, seinen Blick fängt, bevor er es einfängt. Auf der Ebene der Zeit stellt sich eine Art Pendeleffekt ein, welcher die horizontale Beschleunigung der Moderne dialektisch hinterfragt. DOMINO weiß, um was er spielt: Die Versöhnung von Spiegel und Maske findet in der Kunst oder im Leben als Spiel mit ständig wechselnden Perspektiven statt.


Kunstnotizen
"TIP" Stadtmagazin für Berlin, 1996
Text von Katrin Bettina Müller

Mit Spielen im Sand fing es an. Dem Verrinnen der Zeit wie Sand zwischen den Fingern will sich Birgit Maria Wolf mit ihren Kunstformen entgegenstemmen. Sie begann, flüchtige Schattenrisse von alltäglichen Gegenständen in Sandbildern zu fixieren. Daneben legte sie eine Sammlung von Zeichen an, in denen sich sowohl Symbole alter Kulturen finden, die über Jahrtausende währende Zeiträume bis heute tradiert wurden, als auch Pictogramme unseres schnellebigen Zeitalters von Autobahnen und Flughäfen. über zwei Jahre arbeitete Wolf an einem System von Bildern, das nach den Regeln des Domino-Spiels eine unendliche Verknüpfung zwischen den Zeichen unterschiedlicher Herkunft ermöglicht. Sie versucht damit, neue Bedeutungsebenen der visuellen Kürzel aufzuschließen, die sich auch auf "Gedachtes, Erlebtes, Geträumtes und Erinnertes" beziehen können. Auf 120 Bilder ist das Domino-Projekt inzwischen angewachsen, das ab 21. Oktober in der Kunsthalle Moabit den Betrachter auffordert, seine eigene Geschichte aus dem Wald der Symbole herauszulesen.