Momenta inhibita
Text von Dr. Bojana Pejić
Rede zur Ausstellungseröffnung

Einige Monate, nachdem ich 1991 nach Berlin gekommen war, belegte ich einen Deutschkurs. Als ersten Satz bekamen wir von unserer Deutschlehrerin zu hören: "Deutsch ist schwierig, aber es ist möglich."
Wenn man in einem fremden Land lebt, benimmt man sich wie ein Kulturanthropologe: man beobachtet die neue Umgebung und versucht, die Lebensweise der "Eingeborenen" - in diesem Fall der Deutschen - zu verstehen. Man sucht nach den Unterschieden, aber auch den Ähnlichkeiten zwischen sich selbst und den anderen.
Hierzu gehören auch die dümmlichen Schlußfolgerungen jener Ausländer, die behaupten, sie verstünden, was "typisch deutsch" sei. Nachdem ich acht Jahre als "Geistesarbeiterin" hier lebe, muß ich sagen, daß ich noch immer nicht ganz verstehe, was an diesem Land und in dieser Stadt "typisch deutsch" sei. Trotzdem, ich komme daher auf die Feststellung meiner Lehrerin zurück, an die ich all die Jahre immer gedacht habe und die für mich Ausdruck des "deutschen Optimismus" ist.
Heute will ich die Behauptung wagen: In Deutschland ist alles möglich, aber es ist schwierig. Deutsche Philosophie ist schwierig. Die deutsche Vergangenheit ist schwierig. Die Art, wie deutsche Intellektuelle heute das Alltägliche reflektieren, ist schwierig. In deutscher Kunst ist alles möglich, aber alles ist schwierig oder es muß zumindest schwierig aussehen.
Wie paßt Birgit Maria Wolfs Kunst in diesen Kontext? Ich kenne sie als Künstlerin seit fünf Jahren und habe sie niemals sagen hören: "Kunst ist möglich, aber sie ist schwierig." Das soll nicht heißen, daß wir es hier mit der "Leichtigkeit des Seins" in Kunderas Sinn zu tun hätten. Es heißt nur, daß für sie als Künstlerin das Kunstmachen ein unerschöpflicher Quell der Freude ist.
Kunst zu machen, verbraucht viel Energie, aber es schenkt auch viel Energie zurück. Ich will damit auch nicht sagen, daß Birgit Maria Wolf glaube, es sei leicht, Kunst zu machen. Oder daß sie glaube, es sei leicht , heute als Künstlerin in Deutschland und Berlin zu leben, es ist nämlich nicht leicht. Birgit Wolf ist als Künstlerin reif genug zu wissen, daß Kunst zu machen harte Arbeit ist - viel Nachdenken, Innehalten, Abstandnehmen vom eigenen Kunstwerk und sich ihm wieder Annähern. Kunstmachen bedeutet Entscheidungen zu treffen, Lösungen zu finden.
Jeder Künstler tut das, aber Birgit Wolf ist dickköpfig genug, alles und jedes mit Ernst und Leichtigkeit tun zu wollen.
Seit ihrer ersten Einzelausstellung in Berlin 1986 im "Anderen Ufer" bis zu der Ausstellung, die wir heute sehen, sind zwölf Jahre vergangen. In diesen zwölf Jahren hat Birgit Wolf fast ausschließlich Serienarbeiten gemacht. Was bedeutet es, Kunst in Serien zu machen? Es bedeutet, sich überwiegend mit einem künstlerischen Problem oder einer Gestalt zu beschäftigen, die man über Monate oder gar Jahre zu entwickeln versucht. In den achtziger Jahren konzentrierte sich Birgit Wolf auf eine Gestalt: die des Kreises und die des Halbkreises, den sie in ihrer Serie großer Fächer entwickelte. Diese ließen sich sowohl auf dem Boden wie an den Wänden installieren und gestatteten ihr die Entwicklung einer Dialektik des Geschlossen- Offen, Dunkel-Hell, Positiv-Negativ. Ich begegnete ihr 1997, als sie gerade ihre andere wichtige Serie Domino begann, die zwei Jahre später in der Kunsthalle Moabit gezeigt wurde.
Im Vergleich zu ihren Fächer-Installationen, deren Objekte bewußt so situiert waren, daß sie den Raum "angriffen" und eine Art dramatische Raumspannung erzeugten,regierte in Wolfs Domino-Raum das Schweigen. Ihre Domino-Sandbilder durchschlängeln den weißen Raum, ohne jede Aggression gegen die Umgebung, aber auch ohne mit ihr zu verschmelzen. Jedes einzige Domino-Bild ist Träger eines Symbols, Zeichens, Piktogramms oder Ornaments. Sie manifestieren - nach Wolfs eigenen Worten - den Versuch, "eine Geschichte zu erzählen". Während ihres sechsmonatigen Stipendiums letztes Jahr in Istanbul verwirklichte sie eine weitere Serie Sandkasten, die sowohl im Beral Madra Zentrum für Zeitgenössische Kunst als auch in der Mamara-Universität in Istanbul gezeigt wurde.
Auch hier benutzte sie Sand als Material. Aber was bedeutet es eigentlich, Kunst in Serien zu produzieren? Und was bedeutet es, Sand als wichtigstes Material zu benutzen? Es bedeutet vor allem, mit der Zeit zu arbeiten. In all ihren Serien - Fächer, Domino, Sandkasten - und in den hier gezeigten Serien unter dem Titel Momenta inhibita -Angehaltene Momente - versucht Birgit Wolf, die Zeit anzuhalten, sie versucht, den durch die Finger rinnenden Sand anzuhalten. Das hat etwas von dem Spieltrieb, den Schiller in einem seiner Briefe beschreibt. Ich zitiere:
"Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken (es sei mir einstweilen, bis sich diese Benennung gerechtfertigt haben werde, vergönnt, ihn Spieltrieb zu nennen), der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren."

Birgit Wolf unternimmt in ihren Sandserien eine künstlerische Reise; sie versucht eine recherche du temps christallisè. Sie fixiert den Sand auf der Leinwand und produziert Gemälde. Jedes dieser Gemälde ist ein "Ort in der Zeit", ein Ort, an dem die Zeit sichtbar und berührbar gemacht wird. Francois Lyotard schrieb einmal über die unterschiedlichen Zeiten des Kunstwerks: es gibt seine Herstellungszeit, die Zeit, die der Künstler investiert, um das Kunstwerk zu produzieren; es gibt die Zeit des Kunstwerks selbst und die Zeit der Zirkulation des Kunstwerks; schließlich gibt es die Zeit des Betrachters.
Was die Künstlerin Wolf ausdrücklich vom Betrachter erwartet, ist, daß er oder sie auch Zeit investieren: Momenta inhibita ist daher auch eine Einladung zum Bleiben, eine Einladung, Zeit mit der Kunst zu verbringen und den eigenen Spieltrieb zu entwickeln: Kunst wahrzunehmen und gleichzeitig den Sand durch die Finger rinnen zu lassen.
Abschließend möchte ich eine Geschichte vorlesen, die von dem amerikanischen Künstler Douglas Davis stammt:
Die Zeit fand den Menschen zählend im Land.
"Was tust du?", fragte sie.
"Ich gebe jeder Sekunde, Minute, Stunde, jedem Tag, jeder Woche, jedem Monat, jedem edem Jahr und jeder Jahreszeit eine Nummer. Das ist anstrengend. "
"Ich habe eine bessere Idee", sagte die Zeit. "Zähle so: eins... eins... eins... eins... eins... eins."
Nachdem er eine Weile zugehört hatte, nickte der Mensch.
"Ich verstehe"; sagte er, "aber ich kann nicht jedes eins so klingen lassen wie das vorherige oder nächste."
"Ich auch nicht", sagte die Zeit und verschwand.


Das, was der Künstler aus der Zeit macht, verschwindet nicht. Die Zeit vergeht, aber die Kunst - die angehaltenen Momente - können wir festhalten, berühren und beobachten, wir können zu ihr zurückkehren und bei ihr bleiben.