Zeit - Raum - Unterschied oder etwas drückt sich durch
Sandkästen, Istanbul 1997
Text von Ines Lindner, erschienen in
Frauen Kunst Wissenschaft 26. Edition Nr. 14


Mit einer gewissen, auf Ausgleich gerichteten Trägheit folgt Sand formgebenden Kräften. Eine Zeit bewahrt er die Spur eines vom Wasser oder Wind hervorgebrachten Musters, die Kontur einer Düne, den Abdruck eines Körpers, den Hohlraum eines Sandförmchens. Eine Zeit. Sand setzt sich in alle Fugen und gleicht Unterschiede aus, ja bringt sie zum Verschwinden. Er rieselt und rinnt. Umrisse, Muster und Formen, die sich in ihm abzeichnen, sind immer im Übergang, nah am Verschwinden.
Gegenstände, vergegenständlichte Eindrücke der Stadt, und Sand von türkischen Stränden sind das Material, mit dem Birgit Maria Wolf während ihres Istanbulaufenthaltes arbeitet. Die fremde Umgebung gibt Material her für künstlerische Prozesse. Dabei geht es nicht um ihren Ausdruckswert. Im Atelier werden die Souvenirs der Streifzüge in eine Anordnung gebracht, die sie aus der Zeitlichkeit der Erfahrung lösen. Das Zufällige wie das individuell Bedeutsame verdichtet sich in der Bearbeitung zum Zeichenhaften und lassen sich kaum rückübersetzen. Die Kästen mögen für die Künstlerin als Stenogramm einer Erfahrung, als Erinnerungszeichen funktionieren. Aber darauf kommt es nicht an. Alles Anekdotische ist getilgt. Zurück bleiben Zeichen, die lose mit dem Repertoire allgemein zugänglicher, piktoraler Zeichen kommunizieren. Weder das Eigene noch das Fremde drängt sich auf.
Die Oberflächen von Birgit Maria Wolfs Arbeit sind vom Sand monochrom gekörnt. Die quadratischen Elemente fügen sich einer Rasterstruktur: Je fünf Stück (22x22cm) in zehn Reihen.
Der Sand ist gleichmäßig auf Fundgegenständen, Emblemen und Kästen fixiert, in denen sie montiert sind. Materialunterschiede, Schnitt- und Montagestellen verschwinden. Kaum zu unterscheiden, was Fundgegenstand, was ausgesägt ist, um einen bestimmten optischen Eindruck zu emblematisieren. Gegenstand und Kasten treten in die gleiche Ordnung: Objekt, Grund und Rahmung werden durch den Sandüberzug zu einer Form. Die Reihung setzt sie ins Gleiten.
Die Zeitlichkeit als mediale Seite des Sands wird durch die Fixierung ausgesetzt. Sie kommt auf einer anderen Ebene wieder ins Spiel. Die serielle Abfolge schafft einen eigenen Zeit-Raum.
Ein wenig ist es wie ein angehaltener Film, in dem man jeden Frame einzeln ansehen kann und den die Sehbewegung immer wieder neu zu einem Ablauf zusammensetzen kann. Die Zeitlichkeit überträgt sich auf die Wahrnehmung. Sie wird an der Bewegung des Hervorbringens beteiligt. Es ist nicht die einzelne Form, auf die sich Hervorbringen und Wahrnehmung konzentriert. Die Gleichförmigkeit der Abmessungen und Oberflächen nimmt die Unterschiede in den Materialassemblagen zurück und lenkt den Blick auf die Differenz der Formen. Das strenge Konzept eröffnet die Möglichkeit eines unendlichen Spiels der Differenzen.
Auf einer ganz neuen Ebene kommen Sandkästen als Ort unmaßgeblicher Handlungen und Erprobungen ("Das sind doch bloß Sandkastenspiele") ins Spiel, als paradigmatischer Ort einer ästhetischen Praxis.
Fremdheit begegnet einem nicht als etwas, das sich einsammeln läßt. Sie erhöht einen Zustand der Aufmerksamkeit. Man macht sich empfindlich, man schützt sich. Etwas drückt sich durch. Zu spüren ist oft erst viel später. Der konzeptuelle Rahmen für die Sandkastenserie besteht vor Antritt der Reise. Er steht im Werkzusammenhang. In der 130teiligen Arbeit Domino von 1995 hatte Birgit Maria Wolf piktorale Zeichen in der Sandoberfläche ausgespart und die Elemente wie ein Domino im Raum angeordnet. Raum-Zeit einer Erzählung. Der konzeptuelle Rahmen für den sechsmonatigen Studienaufenthalt in Istanbul entlastet. Er ermöglicht es, die Vielfalt des Anderen zu integrieren.
Crossculture hat nicht nur etwas mit Respekt sondern auch mit Angst und Appetit zu tun: Camballze. Einverleiben befördert nicht die Kenntlichkeit der Brokken. Wichtig ist vor allem der Nährwert.
Kulturpolitisch wird Birgit Maria Wolf nahegelegt, vom islamischen Ornament gelernt haben zu sollen. Eigensinnig schreibt sie an den Rand des Texts "falsch". Das Fremde kommt nicht als Offenbarung des Anderen. Das Fremde wird als das Exotische importiert. Das Exotische aber, so zeigt sich häufig genug, hat mehr mit der eigenen als der Fremden Kultur zu tun. Die Eigenschaft des Sands, Unterschiede abformen zu können wie zu nivellieren, stört eine identifizierende Wahrnehmung. Im steten Übergang gerät die Differenzerfahrung ins Gleiten. Birgit Maria Wolf unterbricht es und übersetzt es in eine andere Ebene. Sie fixiert den Sand. Durch die Abfolge der Kästen wird dieses Einhalten in der Sehbewegung wieder aufgelöst und die Unterschiede im Vergleich zu bedenken gegeben. Sie entfalten sich im Zeit-Raum der Betrachtung. Wahrnehmen umfaßt mehr als kognitives Erkennen. Etwas drückt sich durch.
Ines Lindner

Ordløse fortellinger i sand
Lotte Sandberg, Aftenposten 21.08.1997

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Bir sanatçinin kumda biraktiği izler
Alman sanatçi Birgit Maria Wolf´un "Kum Sandiklari" sergisi 7 hazirana dek BM Çağdaş Sanat Merkezi´nde görülebilir

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